Die jüngst angekündigte und teils schon vollzogene Aufhebung der US- und EU-Wirtschaftssanktionen hat viele Syrer in einen Freudentaumel versetzt. 2023 sprach Dr. Antaki, Gründer der CSI-Partnerorganisation „Blaue Maristen“, in Begleitung von CSI-Geschäftfsführer Peter Fuchs vor Diplomaten, Politikern und Journalisten in Berlin, um die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen sein Land vorzubereiten. Dr. Nabil Antaki ist vorsichtig optimistisch. Sorgen macht er sich wegen der islamistischen Gruppen unter der neuen Regierung. Ein Interview.
CSI: Lieber Dr. Antaki, 2024 sagten Sie in einem Interview, dass 90 Prozent der Syrer unterhalb der Armutsgrenze leben. Hat sich die Lage seither verändert?
Dr. Nabil Antaki: Es leben jetzt noch mehr Syrer unterhalb der Armutsgrenze. Es gibt über eine Million neue Arbeitslose ohne Einkommen: Alle Einheiten der aufgelösten Armee und Polizei, 300.000 Verwaltungsangestellte, die von den neuen Behörden direkt nach dem Machtwechsel entlassen wurden.
Haben die Sanktionen auch Menschenleben gekostet, weil Kranke sich keine Medikamente leisten konnten?
Ja, die Sanktionen haben vor allem Krebspatienten das Leben gekostet. Die Krebsmedikamente waren nur auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen erhältlich, unerschwinglich für normale Menschen. Auch Patienten mit Nierenversagen starben, da es an Dialysegeräten mangelte.
Wie reagierten Sie auf die Ankündigung, von US-Präsident Donald Trump und der EU, die Sanktionen gegen Syrien aufzuheben?

Meine Reaktion war große Freude mit vorsichtigem Optimismus. Denn der US-Präsident kann nur Sanktionen aufheben, die per Präsidialerlass verhängt wurden (deren acht). Die übrigen Sanktionen sind Gesetze, die vom Kongress beschlossen wurden. Deren Aufhebung erfordert diverse Voraussetzungen. So ist unter anderem eine Mehrheit in beiden Kammern nötig.
Vor einem knappen Jahr sagten Sie, die Wirtschaftskrise sei der wichtigste Grund für die Abwanderung. Und die Sanktionen seien der Hauptgrund für diese Krise. Glauben Sie, dass der Exodus nun ein Ende nimmt?
Die Gründe für die Auswanderung haben sich im Laufe der Zeit verändert. Von 2011 bis 2024 war der Hauptgrund die Angst vor dem Militärdienst, der bis zu 9 Jahre dauern konnte, sowie von 2011 bis 2016 die Gefahr, durch Bomben oder Scharfschützen getötet zu werden. Nach 2016 wurde die Wirtschaftskrise infolge der Sanktionen zum Hauptgrund, weil es keinerlei Hoffnung auf Besserung gab.
Der Militärdienst wurde von den neuen Machthabern abgeschafft, was für große Erleichterung sorgte. Aber die Wirtschaftskrise bleibt bestehen, und selbst die optimistischsten Experten rechnen erst in drei bis fünf Jahren mit einer Besserung.
Zudem wird es wohl erst eine Besserung geben, wenn Syrien wieder in das SWIFT-Finanzsystem integriert ist, Banküberweisungen erlaubt sind und Investitionen aus arabischen und westlichen Ländern kommen.
Sie betonten damals auch, dass Christen nicht mehr die Islamisten fürchten, sondern nur die Wirtschaftskrise. Wird sich das nach dem Machtwechsel ändern?
Solange die Islamisten auf die Provinz Idlib beschränkt waren, stellten sie keine Gefahr für Christen in anderen Landesteilen dar. Jetzt aber haben 17 bewaffnete islamistische Gruppen unter der Führung der HTS das Assad-Regime gestürzt und die Macht übernommen. Wir fürchten nicht den Islam, sondern die Islamisten.
Dabei muss ich zugeben, dass der neue Präsident und sein Umfeld ihre Ansichten und Reden gemäßigt haben, wenn auch unter dem Druck des Auslands. Sie sind keine Extremisten mehr, sondern streben einen moderaten Islamismus nach türkischem Vorbild an.
Was sind jetzt die größten Sorgen der Christen in Syrien?
Viele fürchten eine Islamisierung des Landes. Sie wollen nicht unter der Scharia leben. Ihre größte Sorge gilt dem Verhalten der regierungsnahen Kämpfer: junge Männer zwischen 20 und 25 Jahre aus Idlib, bisher ohne Kontakt zu anderen Religions- oder Volksgruppen in Syrien. Von Kind auf wurde ihnen eingetrichtert, dass nur Sunniten gut seien, alle anderen (Schiiten, Drusen, Alawiten, Christen) seien „Ungläubige“.
Am meisten gefürchtet sind dabei ausländische Kämpfer: Uiguren, Tschetschenen und Pakistaner, die zum Dschihad nach Syrien kamen und die schlimmsten Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung begehen. Obwohl die Islamisierung des Landes offiziell nicht verkündet wurde, versuchen diese Kämpfer, sie schrittweise durchzusetzen – etwa durch die Trennung von Männern und Frauen in der Öffentlichkeit und in Privatfahrzeugen, oder durch das Verbot von kurzen Hosen.
Unter der neuen Regierung gab es schwere Angriffe auf Alawiten und Drusen. Fürchten Christen, dass sie die nächsten sein könnten?
Nein, zum Glück nicht. Die Alawiten an der Küste und die Drusen sind in ihrer Region in der Mehrheit und könnten der Separationsbestrebung oder zumindest des Wunsches nach mehr Autonomie verdächtigt werden. Das ist bei Christen nicht der Fall, da sie außer im „Tal der Christen“ zwischen Homs und Tartus überall nur kleine Minderheiten sind.
Wir können unseren Glauben frei ausüben; die öffentlichen christlichen Veranstaltungen während der Karwoche fanden ohne Vorfälle statt.
Was sind Ihre Hoffnungen und größte Sorgen im „neuen“ Syrien?
Auch wenn ich nicht gern in einem islamischen Staat lebe, wünsche ich der neuen Regierung Erfolg. Nach 63 Jahren Diktatur sehnen sich die Syrer nach Freiheit, Demokratie und einem Rechtsstaat, in dem alle gleich sind und die Menschenrechte geachtet werden. Wir fürchten aber, dass eine oligarchische Tyrannei gegen eine islamistische Tyrannei ausgetauscht wird.
Doch wir haben keine andere Wahl. Wenn das neue Regime scheitert, droht ein Krieg rivalisierender Rebellengruppen wie in Libyen oder eine Zersplitterung Syriens in konfessionelle Kleinstaaten.
Spüren Sie seit dem Machtwechsel Unterschiede im Verhältnis zwischen Christen und Sunniten?

Nein, dieses ist wie zuvor freundlich und respektvoll. Wir betrachten uns als Bürger desselben Landes.
Der neue „Präsident“ Ahmed al-Scharaa hat erklärt, er wolle Stabilität für Syrien. Vertrauen Sie ihm?
Ahmed al-Scharaa hat zwei Hauptziele: Die internationale Anerkennung seines Regimes – deshalb empfängt er laufend Außenminister und Delegationen, reist in arabische Länder (Ägypten, Saudi-Arabien, Katar, Bahrain, Emirate, Jordanien), in die Türkei und sogar nach Frankreich. Er hat starke Unterstützung für sein Regime und für Syrien gewonnen, kürzlich auch die Aufhebung der Sanktionen erreicht und im Gegenzug versprochen, dass alle Syrer Bürger desselben Landes mit gleichen Rechten seien, unabhängig von Religion, Bekenntnis und Herkunft.
Ebenso will er die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessern – durch bessere Dienstleistungen (Strom, Wasser, Verwaltung), Güterversorgung und die Gewährung von Meinungs- und Redefreiheit. Syrer können sich nach über 60 Jahren Unterdrückung endlich öffentlich und in sozialen Medien äußern. Er glaubt, dass er so die Unterstützung der Bevölkerung gewinnen kann.
Ich hoffe, dass al-Scharaa Stabilität bringt und die Probleme mit den Drusen, Alawiten und Kurden löst. Meine Sorge: In seinen Reden hört man oft die Begriffe „Freiheit“, „Souveränität“ und „Gleichheit“, aber nie „Demokratie“ oder „ziviler, säkularer Staat“.
Können die Blauen Maristen ihre großartige humanitäre Arbeit denn weiterführen, wie Sie diese mit Ihrer Frau Leyla, Bruder Georges und den vielen Ehrenamtlichen taten?
Bis jetzt konnten die Blauen Maristen alle Programme in Aleppo und dem Rest des Landes ohne Probleme fortsetzen. Leyla, Bruder Georges und ich hoffen, dass das neue Leitungsteam, das im September 2024 ernannt wurde, weiter auf unserem Weg der Solidarität, des Mitgefühls und der Liebe arbeitet.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich CSI für die großartige Unterstützung der Christen in Syrien danken. Gott segne Sie alle.
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