Eine Gastkolumne von Giuseppe Gracia
Liebe ist ein Wort, das jeden Tag unzählige Male gebraucht und nicht selten wohl auch falsch verstanden oder missbraucht wird. Im Christentum ist der Begriff der Liebe zentral. Aber was ist mit Liebe eigentlich gemeint. Sicher ist, dass unter Liebe heute viele Menschen ein Gefühl verstehen dürften. Wenn es in populären Serien, Büchern oder Songs heute um Liebe geht, werden uns emotionale Höhenflüge oder Achterbahnfahrten serviert. Intensive Gefühle, die uns dazu verleiten, auch im realen Leben die Schmetterlinge im Bauch zu erwarten und Romanzen als leidenschaftlichen Gefühlsgenuss zu betrachten. Sobald dieser Genuss allerdings abflaut und sich der emotionale Haushalt im Nebel des Alltags abkühlt, sobald sich bei der geliebten Person Schattenseiten zeigen, die in jedem Menschen vorhanden sind, dann kommt die Zeit der unangenehmen Gefühle. Dann werden Beziehungen nicht selten abgebrochen, begleitet von den Einflüsterungen des Zeitgeists: „Liebe ist das, was du fühlst. Vertrau deinen Gefühlen und geh, wohin sie dich tragen.“
Liebe ist aber kein Gefühl. Das zeigt der Philosoph Martin Buber im Buch „Ich und Du“ eindrücklich. Zwar werden von der Liebe verschiedene Gefühle ausgelöst, aber die Liebe ist nur der Auslöser, und die Gefühle, die ausgelöst werden, können sehr verschieden sein, beglückende wie belastende. Diese Gefühle werden von uns nur „gehabt“, während die Liebe selber „geschieht“, wie es Martin Buber ausdrückt. „Gefühle wohnen im Menschen, aber der Mensch wohnt in der Liebe.“ In dieser Sichtweise ist Liebe ein Beziehungsereignis, das jedes Gefühl übersteigt: Liebe als Geschehnis, als Versprechen und Willensakt. Die Liebe erschöpft sich nicht in dem, was ich empfinde, sondern ich werde aus mir selber herausgerissen, damit ich mich überschreite, damit mich die Liebe verbinden kann mit anderen Menschen und mit der Welt.
Umso bedauerlicher, wenn heute viele Ratgeber keine Selbst-Überschreitung propagieren, keine Befreiung aus dem Tunnel der Befindlichkeiten und Wünsche – sondern wenn im Gegenteil behauptet wird, dass es uns besser geht, je mehr wir in uns selber hineinhorchen. Dass man zwar lieben soll, aber nur im Rahmen der eigenen Unabhängigkeit. Das ist ein fataler Selbstbetrug in Richtung Einsamkeit. Oder wie es der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton ausgedrückt hat: „Freie Liebe? Das ist ein Widerspruch in zwei Worten.“
Giuseppe Gracia (57) ist Schriftsteller und Kommunikationsberater.
Kolumnen geben grundsätzlich die Meinung des jeweiligen Autors wieder und nicht notwendigerweise die von CSI.