Beim Angriff auf ihr Dorf Ngoshe wurden Sina Ibrahims Frau und Kinder von Boko-Haram-Terroristen gekidnappt. Nach drei Wochen konnten sie flüchten. Die wiedervereinte Familie landete Monate später im Flüchtlingscamp in Jos. CSI-Redaktionsleiter Reto Baliarda sprach mit Sina vor Ort.
Das christliche Flüchtlingscamp, das von CSI mitunterstützt wird, liegt etwas ausserhalb des Zentrums von Jos, der Hauptstadt im Bundesstaat Plateau. Ein bewaffneter Soldat und ein Polizist bewachen draussen das Camp. Mit einem Lächeln begrüssen sie herzlich die CSI-Vertreter Franco Majok und Reto Baliarda. Die Frage «Wie geht es euch» ist auch bei ihnen ein Teil ihres Begrüssungsrituals.
Pastor Mancha Darong, der Leiter des Camps, führt die weitgereisten Gäste in sein Büro. Spielende und herumtummelnde Kinder machen sich im Innenhof lautstark bemerkbar. Immer wieder recken sie ihre Köpfe durchs Fenster zum Büro, um einen Blick zu erhaschen. Dass die Kinder vergnügt wirken, mag erstaunen. «Die meisten der 231 Flüchtlinge hier sind schwer traumatisiert und brauchen psychologische Betreuung», erklärt Mancha. Offensichtlich können Kinder den Terror anders verarbeiten.
Familie fiel beim Angriff auseinander
Auch Sina Ibrahims Familie ist gezeichnet durch die schwere Last, die sie mehrere Monate zu erdrücken drohte. Ruhig, ja schon fast regungslos, sitzen Ibrahims Frau Asabe (28) und die drei älteren Kinder zwischen vier und acht Jahren in Manchas Büro. Am aktivsten ist der acht Monate junge Sprössling, der im Flüchtlingslager zur Welt kam.
Sina selbst spricht mit klarer Stimme, als er auf die schlimmen Ereignisse der letzten Monate angesprochen wird. Es war im November 2014, als Boko-Haram-Kämpfer das christliche Dorf Ngoshe, die Heimat von Sinas Familie, angriff. Mehrere Bewohner wurden getötet, Häuser geplündert und verbrannt. «Wir rannten Hals über Kopf davon. Auf der Flucht in die Berge verlor ich meine Familie aus den Augen.»
Drei Wochen lang eingesperrt
Eine Woche später erreichte Sina die erschütternde Nachricht, dass seine Frau und die drei Kinder von Boko Haram entführt und in die Terroristenhochburg Gwoza gebracht wurden. «Werde ich sie jemals wieder lebend sehen?» Auf diese quälende Frage erhielt Sina keine Antwort. Er musste sich selbst in Sicherheit bringen und floh nach Kamerun.
Drei Wochen später konnte er das erste Mal aufatmen: Seine Familie teilte ihm via Telefon mit, dass sie den Boko-Haram-Extremisten entkommen konnte. «Wir Christen, die nicht zum Islam konvertieren wollten, waren in einem Innenhof eingesperrt, der von hohen Mauern umgeben war. Wir halfen uns gegenseitig und konnten so alle über die Mauern klettern», schildert Ehefrau Asabe die geglückte Flucht.
Zu viert hielten sie sich mit anderen Geflohenen in den Berghöhlen der Region Gwoza versteckt. Sina zögerte nicht und reiste über Nacht dorthin. Um 5 Uhr morgens kam er am Fuss der Berge an. Doch da Boko Haram tagsüber seinen Schrecken verbreitet, musste er bis abends um 20 Uhr warten, bevor er die Hügel hinaufklettern konnte. «Als ich in der Nähe der Höhlen war, rief ich nach meiner Familie und versicherte ihnen, dass sie keine Angst zu haben bräuchten.» Die Höhlen waren rund um die Uhr von Flüchtenden bewacht. Nach einiger Zeit reagierte ein Bewacher. So konnte Sina seine Familie wieder in die Arme schliessen.
Für die wiedervereinte Familie war klar, dass sie weiterfliehen musste, da Boko Haram immer wieder die Gegend aufsuchte und das Leben in den Berghöhlen hart war. Deshalb zog sie um Mitternacht los. Die Flucht nach Kamerun gestaltete sich schwierig. Denn die islamistische Terrorgruppe hatte viele Routen zum Nachbarstaat blockiert. «Wir sind Gott unendlich dankbar, dass wir einen sicheren Weg fanden. Am nächsten Tag erreichten wir das Dorf Mazagwo in Kamerun.»
Dankbar war Sina auch dafür, dass die Flucht um die Erntezeit geschah. Seine Familie hatte nämlich alles verloren, hatte weder Geld noch Essen. Dank der Erntezeit konnte sie in Kamerun auf den Feldern arbeiten und die geernteten Zwiebeln auf dem Markt verkaufen.
Christen drangsaliert
Im Dezember 2014 erkrankten Ehefrau Asabe und der älteste Sohn. Geld für die medizinische Betreuung hatte Sina nicht. Deshalb organisierte er mit Hilfe seines Bruders einen Transport ins Flüchtlingslager von Yola in Nigeria. Hier konnten sich die beiden Patienten dank der ärztlichen Versorgung erholen. Doch ansonsten erlebte die Familie schwierige Zeiten: «Das Lager wurde von Muslimen geleitet. Ständig wurden wir als Christen diskriminiert und schikaniert.»
Sina klagte sein Leid einem seiner Brüder. Dieser empfahl ihnen, nach Jos zu ziehen. Der Familienvater folgte dem Rat. Im April 2015 erreichte Sina mit seiner Frau und den drei Kindern das christliche Flüchtlingscamp am Stadtrand von Jos.
Seit über eineinhalb Jahren ist die mittlerweile sechsköpfige Familie im christlichen Lager untergebracht, das CSI mitunterstützt. «Wir sind sehr froh, dass wir in Sicherheit sind. Das Leben hier ist viel besser als in Yola», dankt Sina der Lagerleitung. Zudem findet er hie und da die Möglichkeit, mit Aushilfsjobs etwas Geld zu verdienen. Doch Sina möchte wieder als Bauer tätig sein. Daher sucht er ein Stück Land ausserhalb des Camps. Seine Familie wird jedoch bis auf Weiteres im Flüchtlingslager bleiben. Das sei sicherer so.
Eine Rückkehr in seine Heimat Ngoshe schliesst Sina aus: «Die Lage dort ist immer noch zu gefährlich. Sogar Muslime, die sich von Boko Haram abgewendet haben, werden umgebracht.»
Reto Baliarda
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