Zum 101. Genozid-Gedenktag: Opfer-Nachfahren heute wieder in Todesgefahr

1915 verübten die Jungtürken im Osmanischen Reich einen Genozid gegen die Christen. Etwa zwei Millionen Armenier und Assyrer/Aramäer wurden getötet. Viele Nachkommen der Überlebenden sind heute wieder in unmittelbarer Gefahr. CSI hat einige von ihnen in Syrien und im Irak getroffen.


An einem Herbsttag in einem christlichen Dorf in den Hügeln im Nord-Irak: John Eibner – Nahost-Verantwortlicher bei CSI – und ich posierten mit einer Kinderschar für ein Gruppenfoto. Obwohl ein kalter Wind blies und die Kinder keine Jacken trugen, hielten sie tapfer durch. Sie hatten Härteres hinter sich: Die Kinder kamen aus christlichen Familien, die kurz vorher vor dem Krieg in Syrien in den Irak geflüchtet waren. Wir besuchten sie, um ihnen Kleider und Lebensmittel zu bringen.

Die Familiengeschichte von Dawud: Türkei-Irak-Syrien-Irak-?

Unter den Kindern waren auch Dawud (Name geändert), ein kleiner, aufgeweckter Junge, und seine etwas ältere Schwester. Nach dem Gruppenfoto fuhren wir zu ihnen nach Hause, wo uns ihr Vater ihre Familiengeschichte erzählte:

Die Vorfahren der Kinder – vom christlichen Volk der Aramäer/Assyrer – wohnten ursprünglich in Hakkari, im Südosten der heutigen Türkei. Diese Region war stark betroffen, als 1915 die Christen im Osmanischen Reich systematisch vertrieben, auf Todesmärsche geschickt und massakriert wurden. Dawuds Vorfahren überlebten und gelangten nach Semile im Nordirak, der damals unter britischem Völkerbundsmandat stand.

Als die Briten 1933 abzogen, kam es auch hier zu Pogromen gegen Christen mit mehreren tausend Toten. Erneut mussten Dawuds Vorfahren flüchten – dieses Mal an den Chabur-Fluss nach Syrien, das von Frankreich kontrolliert wurde. Dort gründeten Dawuds Vorfahren zusammen mit vielen weiteren christlichen Flüchtlingen – mehrheitlich Nachkommen der Christen von Hakkari – über dreissig christliche Dörfer. Bis zum Ausbruch des Kriegs lebten sie dort in Sicherheit.

Nach dem Kriegsausbruch in Syrien 2011 suchten einige Familien im Irak Zuflucht, andere gingen in den Westen. Viele harrten noch aus. Vor einem Jahr – anfangs Februar 2015 – besetzte der Islamische Staat einige der Dörfer. Tausende Christen verliessen fluchtartig ihre Häuser. Mehr als 200 Christen wurden vom Islamischen Staat als Geiseln genommen und erst gegen hohes Lösegeld wieder freigelassen. Drei Christen verloren ihr Leben: Als der Lösegeldfluss stockte, veröffentlichten die Dschihadisten ein Video mit der Hinrichtung von ihnen. Die Botschaft war: Wenn ihr nicht zahlt, geht es den andern Geiseln ebenso. Bis auf eine junge Frau wurden inzwischen alle Geiseln freigelassen; von fünf Christen ist der Verbleib unbekannt.

Zehntausende haben ähnliche Geschichte

Die christlichen Bewohner der Dörfer am Chabur-Fluss sind nur ein Beispiel von Nachkommen der Genozid-Überlebenden von 1915. Es gäbe viele andere, etwa die Armenier von Kessab oder von Aleppo – auch sie stammen ursprünglich meist aus der Türkei. Heute sind viele von ihnen im Ausland, manche zogen gar das arme Armenien dem vom Krieg gebeutelten Syrien vor. Aber auch im Kaukasus sieht es düster aus, etwa im Konflikt um das armenisch besiedelte Bergkarabach, das früher zu Aserbaidschan gehörte. Die Dynamik, die 1915 zum Genozid geführt hat, wirkt weiter.

Adrian Hartmann

In der Weihnachtsausgabe 2015 der «Zeit» erschien eine umfangreiche Recherche über Tel Goran, eines der christlichen Dörfer am Chabur-Fluss. Familien wurden auseinandergerissen, die 160 Dorfbewohner sind heute in aller Welt verstreut: Libanon, Deutschland, Schweden, Russland, USA und Australien.

«Die Zeit»: Der Exodus von Tel Goran in Syrien