Christen in Syrien: „Wir wollen bewusst ein Zeichen der christlichen Hoffnung geben“

Monsignore Amer Kassar ist Generalvikar der syrisch-katholischen Erzdiözese von Damaskus. Während des Krieges verletzte ihn eine Granate schwer. Im Gespräch mit Christian Solidarity International (CSI) berichtet er von den schweren Lebensbedingungen im Land, dem Exodus der Christenheit und darüber, was die Menschen im Westen für Syrien tun können.

Sehr geehrter Monsignore Kassar, Sie haben festgestellt, dass von den einstmals knapp drei Millionen Christen nur noch etwa 500.000 in Syrien leben. Kann man angesichts dieser Tatsache sagen, dass der Islamische Staat am Ende doch gewonnen hat?

Ich weiß nicht, ob der Islamische Staat es von Anfang so wollte, dass die Christen aus Syrien verschwinden. Wenn man die Geschichte des Nahen Ostens sieht, dann erkennt man jedoch, dass sich diese Entwicklung schon viel früher abzeichnete. Schon vor dem Islamischen Staat im Irak und in Syrien – also ISIS – haben viele die Region verlassen.

Monsignore Amer Kassar, Damaskus

Unter welchen Bedingungen leben die Christen aktuell in Syrien?

Die Christen leiden wie alle syrischen Bürger unter den wirtschaftlichen Zuständen, die sehr, sehr schwer und eigentlich sogar dramatisch sind. Die wenigen verbliebenen Christen sind über ganz Syrien verstreut. Vielleicht leiden sie deshalb sogar ein wenig mehr, da sie nicht mehr ihr gesellschaftliches, wirtschaftliches Leben auch unter- und miteinander gestalten können, wie sie es gerne wollten.

Das heißt, dass die übliche Solidarität unter Familien und den christlichen Gemeinden so nicht mehr gelebt werden kann?

Ganz genau. Durch den starken Exodus ist die Christenheit im Land so sehr verstreut und vereinzelt, dass das Gemeinschaftsleben inklusive der dazugehörigen Solidarität nur noch rudimentär gelebt werden kann. Diejenigen, die noch da sind, setzen ihre ganze Hoffnung jetzt eigentlich immer auf die humanitäre Hilfe von außen und auch auf die Hilfe von Familienangehörigen, die schon ausgewandert sind.

Es gibt Berechnungen, dass bei gleichbleibender Entwicklung bis 2060 keine Christen mehr in Syrien leben werden. Ist das zum einen realistisch, das so zu berechnen, zum anderen, welche Folgen hat das für das Land, diese Region, wenn die Christenheit verschwindet?

Ich denke schon, dass diese Berechnung durchaus realistisch ist. Wenn man jetzt aktuell eine Statistik verfertigen würde, sähe man, dass die Christen, die in Syrien geblieben sind, zur sogenannten „alten Generation“ gehören. Die junge Generation, die das Christentum in Syrien weitertragen sollte, hat das Land verlassen. Wenn man heute nach Damaskus in die Straßen der christlichen Viertel geht oder irgendwo bei Christen in Syrien nachfragt, sagen wohl 85 bis 90 Prozent der jungen, dass sie einen einzigen Traum haben, nämlich das Land zu verlassen.

Es kann durchaus sein, dass es 2060 so sein wird wie in Palästina, wo nur noch ein Prozent der Bevölkerung christlich ist. Unsere Kirchen werden dann Museen sein, die vielleicht dafür genutzt werden, um zu demonstrieren, dass die syrische Gesellschaft tolerant und sehr divers gewesen ist. De facto werden das nur noch Slogans sein, denn die Christen werden dann nicht mehr dort sein.

Welche Auswirkungen hat es denn auf die Zukunft der Christenheit im Land darüber hinaus, dass die meisten Jungen und vor allem gut ausgebildeten Christen das Land verlassen haben?

Durch die jetzige Situation fehlt es vom Jugendleiter bei den Pfadfindergruppen bis hin zum klerikalen Nachwuchs an allem. Wir wollen natürlich den Menschen die frohe Botschaft bringen und das Evangelium verkünden, aber wir haben keinen Erfolg damit, weil einfach die Hoffnung fehlt. Wenn sie das Land verlassen und in Deutschland sind oder in Kanada, dann sind sie in den Gemeinden ganz aktiv, sind immer präsent, gehen sonntags in die Messe, und das religiöse Leben bedeutet ihnen dann wieder ganz viel. Die syrisch-katholische Kirche hat deswegen vier bis fünf Priester in Deutschland.

Für jemanden, der aus einem Land kommt, in dem es einem im Wesentlichen sehr, sehr gut geht, ist es schwer vorstellbar, was dieses Leiden unter den Zuständen in Syrien konkret bedeutet. Vielleicht können Sie das kurz schildern?

Eine durchschnittliche Familie lebt von etwa 25 Euro Gehalt im Monat, das ist weniger als ein Euro am Tag. In den letzten Monaten sind die Preise allerdings noch um ein Vielfaches gestiegen. Es gibt Familien, die den ganzen Tag nichts essen. Sie versuchen aber, ein wenig Brot zu kaufen und ein bisschen Gemüse zu ergattern, um ihre Kinder ernähren zu können. Viele Familien in Syrien essen zurzeit nur eine einzige Mahlzeit pro Tag. Mit Blick auf eine gesunde Ernährung sind das auch nicht unbedingt richtige Mahlzeiten. Die Mangelernährung führt zu massiven gesundheitlichen Schäden. Viele Familien könnten gar nicht leben, wenn sie nicht von uns, von der Kirche, den Pfarreien Unterstützung bekämen.

Nun sind viele Familien, die im Land geblieben sind, von Gewalt und ähnlichen Erfahrungen betroffen. Das führte wahrscheinlich zu psychischen Verletzungen, zu Traumatisierungen. Kann die Kirche aus Ihrer Sicht etwas dazu beitragen, die psychische Situation der Menschen zu verbessern und vielleicht diese Wunden zu heilen?

Wir arbeiten natürlich in unserer täglichen Pastoral mit den Gläubigen, die gerade auch deswegen zu uns kommen, um die seelischen Wunden heilen zu können. Priester und auch gläubige Laien arbeiten mit uns. Wir haben Ausbildungskurse gemacht, um die Gläubigen begleiten zu können, die diese seelischen Probleme haben. Gerade zu Beginn, als die Bomben fielen und der Krieg kam, da waren die Menschen furchtbar schockiert. Da bräuchte es eigentlich Spezialisten. Unsere Aufgabe ist schon unsere Anwesenheit. Ich sage immer zu unsren Gläubigen, solange unsere Kirchen offen sind, solange wir die heilige Messe feiern, solange wir da sind und auch miteinander beten, geben wir ein Zeichen der Präsenz für die Menschen. Wir wollen bewusst ein Zeichen der christlichen Hoffnung geben.

Es gibt eine ganze Reihe an internationalen Hilfsorganisationen, die vor Ort versuchen zu helfen. Kommt die Hilfe auch tatsächlich an?

Ja, die Hilfe kommt letztlich wohl an. Aber es bleibt doch immer die Schwierigkeit, dass die Hilfe Syrien überhaupt erreicht. Die Sanktionen erschweren leider auch die humanitäre Hilfe, die Verschärfungen durch den „Caesar Act“ machen es noch schwieriger.

Was können denn die Christen im Westen für die Menschen vor Ort tun?

Es geht nicht nur darum, Geld nach Syrien zu senden. Es geht auch darum, Solidarität zu zeigen und anzudeuten, dass man auf der Seite der Christen in Syrien steht. Ich lade immer alle Christen im Westen ein: Kommen Sie nach Syrien, teilen Sie für eine gewisse Zeit unsere Leiden, geben Sie durch Ihre Präsenz in Syrien, durch Ihren Besuch ein Zeichen der Hoffnung und auch der Anteilnahme an unsere Gläubigen. Der Westen muss zeigen, dass er sich den Christen in Syrien verbunden fühlt. Und wenn wieder Jugendaustausch möglich wäre, dass junge Leute aus Europa nach Syrien kommen und unsere syrischen Jugendlichen für eine gewisse Zeit nach Europa gehen, um dort Erfahrungen zu sammeln, dann wachsen auch Verbindungen, die zu weiterer Hilfe führen können.

Spenden

Bitte helfen Sie den Christen Syriens, damit sie in ihrer Heimat verwurzelt bleiben können.

55 dienen zur Finanzierung christlicher Schulen
85 versorgen hungernde Familien mit Nahrung und warmer Kleidung
120 sichern Existenzgründungsprogramme für junge Erwachsene in Aleppo
individueller Betrag