„Die Europäer müssen es wagen, die Konflikte beim richtigen Namen zu nennen, nämlich Völkermord durch Christenverfolgung.“

Ein Interview mit Dr. Emeka Ani.

Sehr geehrter Herr Dr. Ani, seit der Jahrtausendwende hat die Gewalt gegen Christen in Nigeria stetig zugenommen. Was sind die Hintergründe?

Dr. Emeka Ani

Oftmals stellt sich die Frage, ob die Gewaltexzesse in Nigeria einen politisch-religiösen Hintergrund haben oder ob ihnen eher ein religiös-politischer Impuls zugrunde liegt. Betrachtet man die Gesamtsituation in Afrika, so lässt sich in vielen anderen afrikanischen Ländern fast das gleiche Muster beobachten. Man geht davon aus, dass die Aktivitäten der Janjiwans im Sudan, der Al-Qaida im islamischen Maghreb und der Sahelzone, der al-Shahab in Ostafrika und natürlich der Boko Harams im Norden Nigerias sowie andere Mutationen des islamische Fundamentalismus einen religiös motivierten Hintergrund haben. Im Prinzip geht es um die Einführung einer islamischen Herrschaft in der gesamten Region. Alle dschihadistischen Gruppen stehen öffentlich dazu.

 

Waren in der Vergangenheit in erster Linie die Christen im mehrheitlich islamischen Norden des Landes betroffen, richten sich die Übergriffe nun auch auf die christlichen Bundesstaaten Zentralnigerias. Steckt dahinter eine weitere Eskalation?

Eindeutig! Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit, bis die Vorstöße der islamistischen Fundamentalisten bis in die christlichen Bundesländer Zentral- und Südost-Nigerias vordringen würden. Die Eskalation in Form und Format erfolgt sowohl subtil als auch explizit. Während Christen und christliche Dörfer südlich des Bundesstaates Kaduna sowie in den Regionen des Mittleren Gürtels, nämlich in Benue, Plateau, Zamfara usw., direkt angegriffen werden, sind Form und Format des Konflikts im südöstlichen und westlichen Nigeria eher subtiler. Es mischen sich beispielsweise bewaffnete Kommando-Killer-Truppen unter die Hirten, die sonst friedlich mit ihren Herden umherstreifen. Ihre Herden fressen die Ernten und andere Nutzpflanzen, so dass die Dorfbewohner, die sonst von der Ernte leben, am Ende alles verlieren und verhungern. Beim geringsten Widerstand werden die Dorfbewohner von den bewaffneten muslimischen Fulani-Hirten überwältigt und bestialisch getötet. In den Dörfern herrscht daher Angst, Ackerland zu betreten. Frauen und Mädchen werden immer wieder verprügelt und vergewaltigt. Sogar Schulkinder werden verängstigt und von den Schulen verjagt, wenn die Hirten mit ihren tausenden Tieren willkürlich die Schulhöfe betreten. Dorfbewohner, Besucher, usw. werden von den Angehörigen der Fulani entführt, die sich als Hirten tarnen und Lösegeld in Millionenhöhe erpressen, sonst droht Tötung.

Diese Eskalation destabilisiert die Regionen Zentral-, West- und Südost-Nigerias und führt zu einer besonderen Form der Binnenflucht, nämlich zur Flucht der Dorfbewohner in die ohnehin schon ziemlich überfüllte Stadt. Viele Dörfer im Südosten Nigerias sind aus Angst vor Angriffen und aus Mangel an Lebensunterhalt durch Verlust ihrer Ernte fast komplett verlassen. Dies ermöglicht den muslimischen Fulani-Hirten weitgehend ungehinderten Zugang zu den Dörfern und Feldern.

Eine andere Form der Islamisierung erfolgt durch sexuelle Beziehungen. Mädchen und junge Frauen werden von Mitgliedern der muslimischen Fulani mit Geld in eine Scheinbeziehung gelockt und geschwängert. Danach beansprucht der Fulani-Mann das Kind, das automatisch islamisch erzogen wird. Es gibt Vermutungen, dass dahinter eine gezielte Islamisierungsstrategie steckt. Das ist praktisch eine sexualisierte Islamisierung.

 

Die Gewalt geht im Wesentlichen von den sogenannten Fulani aus – das sind mehrheitlich muslimische Hirten. Geht es dabei um mehr als die fruchtbaren Böden Zentralnigerias?

Es geht um die flächendeckende Islamisierung Nigerias, inklusiv der Teile des Landes die überwiegend christlich sind. Es ist kein Geheimnis, dass die muslimischen Fulani, den Besitz Nigerias beanspruchen.

 

Im Norden des Landes ist aufgrund des Terrors eine Hungersnot ausgebrochen. Laut UNO sind dort sechs Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen. Stehen wir am Beginn einer humanitären Katastrophe?

Eigentlich stehen wir nicht am Anfang einer humanitären Katastrophe, sondern sind bereits mittendrin. Die Katastrophe betrifft jedoch nicht nur den Norden, sondern auch Zentral-, West- und Südost-Nigeria. Die Hirten mit ihren Herden zerstören die Lebensader der Bevölkerung, ihre Landwirtschaft und hindern die Bewohner daran, für sich selbst zu sorgen. Dies führt zu Hungersnot und Flucht.

 

Aktuell befinden sich aufgrund der Übergriffe mehrere Millionen Menschen im eigenen Land auf der Flucht. Welche Auswirkungen hat das auf das Land?

Nigeria ist im Verhältnis zu seinem eigenen Potenzial nur ein Schatten seiner selbst. Dieses Land ist nicht nur reich an Bodenschätzen, sondern verfügt auch über eine gut ausgebildete und wissensdurstige Bevölkerung. Binnenflüchtlinge bedeuten einen enormen Verlust an menschlichen und sozialen Ressourcen im Land mit entsprechenden Folgen für die Wirtschaft. Die Situation begünstigt auch die Ausbeutung des Landes durch ausländische Akteure. Zusammengenommen wirkt das stark destabilisierend. 

 

Nigeria hat als bevölkerungsreichstes Land Afrikas und starke Volkswirtschaft Signalwirkung auf dem Kontinent. Sehen Sie Gefahren, die vom Terror über die Grenzen hinaus ausgehen?

Man sagt: „Wenn Nigeria verliert, hat Afrika verloren“ – und das vielleicht zu Recht. Eine Destabilisierung hat mindestens Auswirkungen auf die gesamte Region Afrikas südlich der Sahara bis nach Zentral- und Ostafrika. Die Volkswirtschaften der westafrikanischen Länder sind mit Nigeria verknüpft. Zudem hängen die einzelnen Mutationen der Terrorgruppen sowohl aus der Sahelzone als auch aus Mali und dem Sudan zusammen, wobei Nigeria das Hauptziel der Eroberung ist. Wenn ihnen das gelingt, wird der Terrorismus von Nigeria nach ganz Afrika „exportiert“. Gerade deshalb ist der Kampf gegen Terrorismus und Christenverfolgung in Nigeria für Afrika von existenzieller Bedeutung. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Weltgemeinschaft diese Gefahr unterschätzt oder ignoriert.

 

Welche Folgen könnten die anhaltenden Fluchtbewegungen für Europa haben?

Europa und Afrika liegen geografisch näher beieinander, als man vielleicht vermutet.

Der derzeitige Flüchtlingsstrom aus Afrika wird im Vergleich zu dem, was Europa im Falle einer weiteren Destabilisierung Nigerias bevorsteht, als unbedeutend erscheinen. Es geht um eine Massenbewegung von mehr als 300 Millionen Menschen aus diesen Regionen in Richtung des nächstmöglichen sicheren Hafens, nämlich Europa. Europa ist definitiv nicht in der Lage, so viele Flüchtlinge aufzunehmen.

 

Allein in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres wurden mehr als 2.500 Menschen Opfer islamistischer Übergriffe. Beobachter sprechen von „Völkermord in Zeitlupe“ und sehen die Gefahr eines Bürgerkriegs – teilen Sie diese Befürchtung?

Ob es sich um einen Völkermord in Zeitlupe oder bereits in vollem Gange handelt, ist eine Frage der Perspektive und Wahrnehmung. Viele fragen sich, warum es in Nigeria noch keinen Bürgerkrieg gibt. Denn die Voraussetzungen für den Ausbruch eines Krieges sind bereits gegeben.

 

Wie ist die politische Situation im Land?

Nigeria wird fast ausschließlich von Menschen aus dem muslimischen Fulani-Stamm gesteuert. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte legt den Verdacht nahe, dass eine Islamisierung des Landes angestrebt wird, notfalls mit Zwang. Die Bundesstaaten im Norden Nigerias haben das Scharia-Gesetz eingeführt, ungeachtet der Bestimmungen der Bundesverfassung Nigerias zur Religionsfreiheit und Neutralität. Ja, man kann sagen, dass im Norden Nigerias bereits ein muslimisches Kalifat errichtet wurde. Nigeria wurde außerdem von den politischen Mächten aus der Ecke der muslimischen Fulani verfassungswidrig als Mitglied der Organisation Islamischer Länder (OIC) registriert. Die jüngste politische Zusammensetzung der Regierung, in der sowohl der Präsident als auch der Vizepräsident Muslime sind, stellt einen Bruch mit der ungeschriebenen Tradition des Landes dar, die politische Neutralität im Land zu gewährleisten. Sowohl Christen als auch Angehörige anderer Religionen in Nigeria betrachten dies als Provokation und als weitere sinnlose Eskalation zugunsten der nigerianischen Islamisierungsagenda.

 

Welche Konsequenzen hat diese einseitige politische Struktur für das Land?

Die herrschende Führung Nigerias aus dem muslimischen Fulani-Umfeld hat sowohl den christlichen Anteil an der Regierung als auch die strukturelle Entwicklung einiger Teile des Landes, vorwiegend in christlich besiedelten Regionen, kontinuierlich reduziert. Folglich sind die nationalen Ressourcen Nigerias nicht gerecht verteilt. Hinzu kommt der anhaltende Angriff auf die christliche Bevölkerung, bei dem Dörfer sowie christliche Einrichtungen und Personal attackiert werden, ohne dass die Regierung entschieden eingreift, um die Opfer und die gefährdeten Gebiete zu schützen. Es fehlt offensichtlich der politische Wille, das Problem zu lösen.

Diese Umstände führen zu Unabhängigkeitsbestrebungen in verschiedenen Teilen des Landes, darunter auch im sogenannten Biafra, das überwiegend von christlichen Igbos im Südosten Nigerias bewohnt wird. Weitere Kampagnen für die Gründung einer unabhängigen Oduduwa-Nation im westlichen Teil Nigerias, vor allem des Yoruba-Volks, sind im Gange, ebenso wie Forderungen nach einer Arewa-Nation aus der nördlichen Region Nigerias.

Obwohl noch kein offizieller Bürgerkrieg ausgebrochen ist, ist die Spannung im Land recht hoch.

 

Seit wenigen Wochen gibt es in Nigeria eine neue Regierung. Haben Sie Hoffnung, dass sie die Gewalt im Land beenden kann?

Erstens ist der Prozess zur Wahl der aktuellen Regierung äußerst umstritten. Mehrere Hinweise, darunter auch der Bericht der internationalen Wahlbeobachter, lassen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Wahlvorgangs aufkommen. Dies hat die Spannungen und die internen sozialen Spaltungen erheblich verschärft und die Forderungen nach Unabhängigkeit von einigen Teilen des Landes lauter werden lassen. Auch der Bruch mit der Tradition, dass Präsident und Vizepräsident unterschiedlichen Religionsgemeinschaften angehören, um eine weitgehend säkulare Gesellschaft zu gewährleisten, hat bei den Bürgern zu Misstrauen, Unmut und Unzufriedenheit geführt.

Insofern glaube ich nicht, dass der Konflikt durch die in Nigeria noch herrschende Konstellation in absehbarer Zeit beigelegt wird.

 

Was wäre aus Ihrer Sicht notwendig, um den Frieden wieder herzustellen?

Meiner Meinung nach muss die Lösung von Konflikten vielseitig und vielschichtig in mehreren Phasen gestaltet werden. Am Beginn steht die Erkenntnis, dass Nigeria ein irrationales, fremdes Konstrukt egoistischer Kolonialisten ist, das keine Rücksicht auf die Pluralität und Vielfalt der Völker genommen hatte. Auf dieser Basis lässt sich der Weg für Dialog und Völkerverständigung ebnen. Gerade der Dialog über die Konstellation des Zusammenlebens der Menschen in Nigeria ist unerlässlich.

Zudem ist die Säkularisierung des politischen Nigerias notwendig. Religiöse Neutralität in der Politik und Religionsfreiheit für die Bevölkerung muss unverzüglich eingeführt und praktiziert werden. Das Scharia-Gesetz als Regierungsinstrument muss sofort und auf unbestimmte Zeit abgeschafft werden.

Eigentlich ist Nigeria verfassungsmäßig eine Republik. Eine politische Umstrukturierung ist notwendig, um in verschiedenen Regionen eine gewisse Verwaltungsautonomie zu ermöglichen. Das System der Republik muss auch tatsächlich umgesetzt werden.

Der Einfluss anderer Staaten in Nigeria, z.B. von Seiten Großbritanniens, der Türkei, des Iran, Saudi-Arabiens, Chinas oder der USA, sind kritisch abzuwägen, da sie oft eher nach ihren eigenen Interessen handeln, anstatt sich objektiv für die Interessen Nigerias einzusetzen.

Nigeria ist nicht nur überschuldet, sondern braucht auch Investitionen, um der Bevölkerung gut bezahlte Arbeitsplätze und profitable Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten. Ein wirtschaftlich gesundes Nigeria, das der Bevölkerung zugutekommt, löst einige Spannungen. Und schließlich muss der Terrorismus energisch und entschieden bekämpft werden.

 

Was können Europa, die Christen im Westen und Menschenrechtsorganisationen wie Christian Solidarity International (CSI) dazu beitragen?

Besonderer Dank geht an CSI für die regelmäßigen Berichte über Christenverfolgung in Nigeria und das Engagement gegen Völkermord in Subsahara-Afrika. Ich erhalte Ihren Newsletter regelmäßig mit Freude.

Tatsache ist, dass Christen in Nigeria zu Recht uneingeschränkte Solidarität aus Europa und europäischen NGOs erwarten – und diese auch verdienen. Immerhin haben die Europäer das Christentum nach Nigeria gebracht. Insofern ist es enttäuschend, dass dieses Thema meiner Meinung nach in den europäischen Medien und selbst in kirchlichen Strukturen viel zu wenig Beachtung findet. Auch europäische Regierungen meiden das Thema, während in Nigeria regelmäßig Christen abgeschlachtet werden. Um dennoch lukrative Geschäfte mit Nigeria machen zu können, wird die dortige Christenverfolgung einfach als politisch motiviert und damit als innere Angelegenheit umetikettiert – was für ein trauriger Fall von Doppelmoral! Die Europäer müssen es wagen, die Konflikte beim richtigen Namen zu nennen, nämlich Völkermord durch Christenverfolgung.

Europa muss sich für die Säkularisierung der nigerianischen Politik einsetzen. Politischer Druck auf die Regierung in Nigeria ist dabei unerlässlich. Vor allem muss Nigerias Mitgliedschaft in der Organisation für muslimische Staaten (OIC) unverzüglich widerrufen werden. Europa muss sich darüber im Klaren sein, dass die Unternehmen und Staaten, die in und mit Nigeria Geschäfte machen, ohne sich für das Schicksal der Christen zu interessieren, Blut von Christen an ihren Händen haben. Das Leiden der Christen in Afrika sollte auch als Leiden für Europa und europäische Christen wahrgenommen werden.

Vielen Dank für das Gespräch!
Zur Person:
Dr. Emeka Ani ist Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK), Geschäftsführer des Bundespastoralrats der Katholiken anderer Muttersprachen, Berater der Deutschen Bischofskonferenz für Migration, Mitglied des Ökumenischen Vorbereitungsausschuß (ÖVA) für die Interkulturelle Woche und Teilnehmer des Synodalen Wegs in Deutschland. Ani wurde in Nigeria geboren, lebt seit 26 Jahren in Deutschland und arbeitet als Psychotherapeut.