Eltern entführter Chibok-Mädchen beschreiben zehnjährigen Albtraum

Zehn Jahre nachdem Boko Haram 276 Mädchen aus einem Internat in Chibok im Nordosten Nigerias entführt hat, befinden sich 92 Mädchen immer noch in der Hand ihrer Entführer. Der nigerianische Journalist Luka Binniyat hat für CSI einen Informationsbesuch in Chibok unternommen und sich bei Eltern über das Trauma, die Depression und die Not der Familien der vermissten Mädchen erkundigt.

Von Luka Binniyat

In der Nacht des 14. April 2014 entführten die Dschihadisten von Boko Haram 276 Mädchen aus ihrem Schulwohnheim in der nordostnigerianischen Stadt Chibok. Das dramatische Ereignis machte bald Schlagzeilen auf der ganzen Welt und verbreitete sich in den sozialen Medien unter dem Hashtag #BringBackOurGirls. Doch trotz einer öffentlichkeitswirksamen internationalen Kampagne für die Freilassung der Chibok-Mädchen wird auch zehn Jahre später noch ein Drittel von ihnen vermisst. Die Qualen ihrer Eltern gehen weiter.

Tot wegen Trauma

Chibok ist eine Gemeinde mit etwa 30.000 Einwohnern, die sich 130 km südlich von Maiduguri, der Hauptstadt des Bundesstaates Borno, befindet. Chibok liegt in einem Buschland und wird von niedrigen Hügeln und flachen Ebenen begrenzt. Es ist von historischer Bedeutung für die ethnische Gruppe der Kibaku, die zu 90 Prozent Christen sind.

Die Abwesenheit ihrer Töchter hat sich verheerend auf die Gemeinschaft ausgewirkt, sagt Yakubu Nkeki, der Vorsitzende einer Vereinigung, die die Eltern der entführten Chibok-Mädchen vertritt. Nkeki sagt sogar, dass Dutzende von Eltern in ihrer Gruppe an den Ängsten und der wirtschaftlichen Not, die sie nach der Entführung erlitten haben, gestorben sind. „Nach der letzten Zählung sind 44 Mitglieder unserer Vereinigung gestorben“, sagte Nkeki. „Sie starben an ihrem Trauma und ihrer Frustration. Es gibt Eltern mit zwei Töchtern, die entführt wurden. Sie konnten es nicht ertragen, verfielen in schwere Depressionen und starben.“

Zwei von Yana Ganas Töchter wurden durch Boko Haram entführt.

„Die Entführung unserer Töchter ist ein furchtbares Verbrechen, das ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen würde“, sagte er gegenüber CSI. „In den letzten zehn Jahren war es für uns Eltern ein Albtraum nach dem anderen.“ Die Tochter des Vorsitzenden gehörte zu einer Gruppe von Chibok-Mädchen, die im Jahr 2020 gerettet wurden. Zu ihrer eigenen Sicherheit möchte er nicht über sie sprechen. Aber er sagte CSI, dass sie sich nicht mehr im Bundesstaat Borno befindet und an einer Hochschule studiert. Nkekis Nichte wurde ebenfalls entführt und kam 2017 wieder frei.

Anruf nach 10 Jahren Stille

Andere Eltern haben durch den Stress Schlaganfälle erlitten, so Nkeki. Dazu gehört ein Mann, dessen Tochter ihn Anfang dieses Jahres aus heiterem Himmel kontaktierte. „Der sogenannte Ehemann des Mädchens rief ihn aus ihrem Versteck irgendwo in den Mandara-Bergen an und teilte ihm mit, dass seine Tochter entbunden habe“, sagte der Vorsitzende der Elternvereinigung. Der Kämpfer erlaubte dem Mann daraufhin, mit seiner Tochter zu sprechen. „Es war das erste Mal, dass er von ihr hörte“, berichtete Nkeki. „Sie erzählte ihm, dass sie schon einmal entbunden habe, aber das Kind verloren hatte. Das Mädchen sagte, ihr „Ehemann“ habe ihr erlaubt, ihre Eltern zu besuchen, unter der Bedingung, dass sie zu ihm zurückkehre. Doch am nächsten Tag rief der Kämpfer an und teilte mit, dass er seine Meinung geändert habe, da seine Frau möglicherweise vom Militär gerettet werden würde. Nach Angaben von Nkeki brach der Vater des Mädchens zusammen und fiel in ein langes Koma. Als er wieder zu sich kam, konnte er nicht mehr sprechen und nicht mehr gehen. „Er ist jetzt der Vierte in diesem Zustand.“

Wirtschaftliche Auswirkungen

Nkeki fügte hinzu, dass sich die Situation der Familien durch die allgemeine Unsicherheit in der Region aufgrund der sporadischen Boko-Haram-Angriffe auf die Stadt, unter anderem am 1. Januar 2024, noch verschlimmert hat. „Die meisten von uns sind im Grunde genommen Bauern und unsere fruchtbarsten Ländereien liegen weit weg von Chibok“, sagte er. „Wenn man dorthin geht, wird man von Boko Haram getötet oder entführt.“ Und weiter: „Unsere Wirtschaftskraft hat sich also stark verringert. Wir können kaum noch über die Runden kommen.“ 

Wie Verdächtige behandelt

Nkeki kritisierte auch die Reaktion des nigerianischen Militärs.  Wenn das Militär, das im Busch patrouilliert, einen Menschen findet, der trotz der Gefahr seitens Boko Haram auf seiner Farm arbeitet, „verhaften sie ihn und behandeln ihn wie einen mutmaßlichen Terroristen.“ Der Beauftragte für Information und innere Sicherheit des Bundesstaates Borno, Usman Tarr, sagte, er wisse nichts von der „eigenmächtigen Vorgehensweise“ des Militärs in Chibok. „Wir haben eine große Anzahl von Truppen geschickt, um die Stadt zu sichern und dafür zu sorgen, dass Frieden herrscht. Mir sind keine Probleme zwischen den Einwohnern von Chibok und dem Militär bekannt“, versicherte Tarr gegenüber CSI. „Ich weiß nur, dass das Fahren mit Motorrädern in Chibok und überall im Bundesstaat Borno verboten ist. Das liegt daran, dass Terroristen sie benutzen, wenn sie Gemeinden überfallen. Wenn das Militär dich auf einem Motorrad erwischt, bist du verdächtig“, sagte er.

Luka Binniyat ist ein preisgekrönter Schriftsteller und freiberuflicher Journalist aus Kaduna, der sich auf Konfliktberichterstattung spezialisiert hat. Im Jahr 2021 verbrachte er einige Zeit im Gefängnis, weil er über Massaker in dem Bundesstaat berichtet hatte.