Im August 2014 mussten praktisch alle Christen in der Ninive-Ebene ihr Zuhause verlassen. Seit Monaten leben sie in provisorischen Unterkünften. Eine Rückkehr ist bisher nicht absehbar. CSI sprach mit Flüchtlingen und brachte Nothilfe.
John Eibner und ich sind in einer Kleinstadt zwischen Erbil und Dohuk im nordirakischen Kurdistan. In den umliegenden Geschäften haben wir in grossen Mengen Lebensmittel und Hygieneartikel eingekauft: Reis, Tee, Zucker, Salz, Teigwaren, Öl, Burgum, Linsen, Büchsenfleisch, Dosenfisch, Tomatenkonserven, Abwaschmittel, Seife und Waschpulver. In einer Tiefgarage teilen wir alles auf 365 Pakete auf: 305 christliche und 60 jesidische Flüchtlingsfamilien werden hier Hilfe erhalten. Jedes Paket hat einen Wert von etwa 35 Franken und reicht für eine fünfköpfige Familie etwa zwei Wochen.
Arbeit gibt es keine
Während sich unsere Projektpartner von der irakischen Hammurabi-Menschenrechtsorganisation um die Verteilung kümmern, besuchen wir die einzige Kirche der Kleinstadt, wo 25 Flüchtlingsfamilien wohnen. «Früher waren wir 80 Familien», erzählen sie uns. Vorstellen können wir uns das nicht, schon mit den 25 Familien scheinen die Räume überfüllt. Im grössten Raum wohnen elf Familien. Mit Schachteln und Kisten haben sie versucht, sich ein bisschen Privatsphäre zu schaffen. Die Leute fühlen sich im Stich gelassen. Umso dankbarer sind sie für unser Kommen.
Unter den Flüchtlingen hat es Chauffeure, Regierungsangestellte, Bauarbeiter. «Eine Arbeit zu bekommen, ist hier unmöglich», sagen sie uns. «Wir sprechen kein Kurdisch und die Arbeitslosigkeit ist schon unter den Kurden hoch.» Mehrere überlegen sich, einer der vielen Milizen beizutreten und den Kampf gegen den Islamischen Staat aufzunehmen. Für die Kinder führen Freiwillige an einem andern Ort eine arabische Schule. Wegen der Fahrkosten können sich die Schule jedoch nicht alle leisten.
«Gott mit uns» im Keller
Wir verlassen die Kirche und betreten eine Art Keller. Es dringt kaum Licht in den kleinen Raum. Rahil* wohnt hier und ihre Schwägerin, beide mit Ehemann und jeweils drei Kindern. Der Jüngste der Schwägerin heisst Emanuel, «Gott mit uns». Wenige Tage vor unserer Ankunft ist er auf die Welt gekommen, mitten im Flüchtlingselend.
Rahil erzählt uns von Dawud*, ihrem Jüngsten: «Ich war für die Geburt im Spital in Karakosch, als die kurdischen Streitkräfte (Peschmerga) aus Angst vor dem Islamischen Staat abzogen.» Karakosch war die grösste christliche Stadt in der Ninive-Ebene mit etwa 50’000 Einwohnern. «Die meisten Bewohner hatten Karakosch schon verlassen, aber wir warteten auf die Geburt. Ärzte waren keine mehr da, nur noch eine Hebamme. Dawud kam am 7. August 2014 etwa um neun Uhr auf die Welt. Gleich darauf kam meine Familie mit einem Kleinbus und wir flüchteten. Wir waren sieben Familien, alles Verwandte.»
Zu essen ist nicht alles
Der letzte Flüchtling, den wir bei der Kirche besuchen, ist ein Wissenschaftler. Er hat mehrere Kinder, die alle studieren. Schweigend sitzen seine Frau und zwei der Kinder dabei, als der Vater ihre hoffnungslose Lage schildert. «Im November 2014 befragten wir 4000 christliche und jesidische Flüchtlinge. 42% wollten auswandern, 56% zurück in ihre Häuser gehen. Führten wir diese Umfrage heute durch, würde eine grosse Mehrheit für die Emigration stimmen.» Er hat grosse Sorgen um die Zukunft seiner Kinder. Es gebe keine Arbeit und er wolle nicht, dass seine Kinder unter solchen Umständen aufwachsen. «Ich werde einem Muslim nie mehr trauen können.» Auch Ihren Freunden nicht? «Ich habe Freunde von vielen verschiedenen Ethnien. Vertraute ich einem muslimischen Freund früher zu 90%, vertraue ich ihm heute noch zu 50%.»
Vor einigen Jahrzehnten wurden auch die Juden aus dem Irak vertrieben. Es sei ihnen aber besser gegangen als heute den Christen: «Die Juden hatten Israel, aber wir haben keinen Ort, wohin wir gehen könnten.» Er sagt auch, was uns schon einige gesagt haben: «Im Westen haben sogar die Tiere Rechte. Wir haben keine.» Er dankt für die Lebensmittelpakete, fordert aber auch zu politischem Aktivwerden auf: «Macht Druck auf die Entscheidungsträger, damit sie sich für die Rechte von Christen und Jesiden einsetzen.» Mit Briefen an die Regierungen in der Schweiz, Deutschland, Frankreich und den USA und mit der Sensibilisierung der Öffentlichkeit über Vorträge, Medien und unsere eigenen Kanäle versuchen wir alles Mögliche, um das zu erreichen.
Adrian Hartmann
* Namen geändert