Naher Osten: Genozid 1915 – «Die religiöse Säuberung hat bis heute nicht aufgehört»

Der Genozid an den Christen im Osmanischen Reich jährt sich dieses Jahr zum hundertsten Mal. Die türkische Regierung streitet den Völkermord ab und diskriminiert die Überlebenden auch heute noch. CSI-Geschäftsleitungsmitglied John Eibner schlägt im Interview den Bogen vom Genozid von 1915 bis zur Gegenwart.

CSI: Der 24. April 2015 ist der 100. Gedenktag des Genozids an den Christen im Osmanischen Reich. Etwa zwei Millionen Christen wurde getötet. War das Ausmass dieser Katastrophe damals vorhersehbar?

Dr. John Eibner: Es gab viele Anzeichen für die erhöhte Gefährdung der christlichen Minderheiten. Massaker an Christen hatten im Osmanischen Reich eine lange Tradition, etwa im Balkan, in Syrien, im Libanon, mit Tausenden von Toten. 1915 befürchteten die Osmanen, dass die christliche Bevölkerung – allen voran die Armenier – den Staat untergraben und mit dem Kriegsgegner Russland kooperieren würde.

 

Welche Folgen hatte der Genozid?

Die schlimmste Folge ist sicher, dass heute weniger als ein Prozent der Bevölkerung in der Türkei christlich ist, während es vor dem Genozid 20 bis 30 % waren. Die Zahl der Christen nahm auch in anderen Gebieten des ehemaligen Osmanischen Reichs ab, allerdings eher schleichend.

 

Manche sagen, der 1915 begonnene Genozid habe nie aufgehört. 

Über die Türkei hinaus wurde auf die Christen im Nahen Osten in den letzten hundert Jahren tatsächlich immer in der einen oder anderen Form Druck ausgeübt, die Region zu verlassen. Man kann sich darüber streiten, ob man das nun als Genozid bezeichnen will oder nicht, Fakt ist: Die religiöse Säuberung gegen Christen hat nie aufgehört, wenn sie auch in einem langsameren Tempo voranschritt als während des Genozids. Heute hat die religiöse Säuberung in beträchtlichen Teilen des Iraks und Syriens – in Gebieten des ehemaligen Osmanischen Reichs – wieder ein rasantes Tempo angenommen. 

Vor allem in Zeiten ausgeprägter Gewalt nahm die Emigration von Christen massiv zu. So verliessen in den 1980er Jahren viele der verbliebenen Christen die Türkei, als der Bürgerkrieg zwischen der Regierung und den kurdischen PKK-Rebellen tobte. Die Christen waren zwar nicht das Ziel der Gewalt, aber sie standen zwischen den Fronten. Ihr Leben wurde unerträglich, da weder die Regierung noch die Kurden ein Interesse daran hatten, sie zu schützen.

 

Haben die in der Türkei verbliebenen Christen eine Zukunft?

Die verbliebene kleine Gemeinschaft ist, allein aufgrund ihrer geringen Zahl, stark gefährdet. Wenn die Türkei stabil bleibt, ist es möglich, dass dieser kleine Rest überlebt. Wird die Türkei jedoch destabilisiert und greifen die Konflikte von Syrien und vom Irak auf die Türkei über, so wäre selbst dieser kleine Rest gezwungen, das Land zu verlassen.

 

In der Türkei scheint die Diskriminierung der Christen viel stärker von der Regierung auszugehen als etwa in Syrien oder im Irak. 

Die Regierung in der Türkei schafft tatsächlich ein Klima, in dem es die Christen schwer haben. Dieses christenfeindliche Klima war in der jungen Republik von einem extremistischen türkischen Nationalismus geprägt – die meisten Christen sind keine ethnischen Türken, sondern zum Beispiel Armenier, Assyrer oder Griechen. Unter Präsident Erdogan trat der Islamismus an die Stelle des türkischen Nationalismus. Wer kein Muslim ist, gilt als fremd. 

In Syrien scheint das Assad-Regime religiösen Minderheiten gegenüber eher offen, weil die Assads selber einer religiösen Minderheit – den Alawiten – angehören. Die Alawiten spielen eine Schlüsselrolle in der Regierung. Das Regime gründet seine Macht denn auch nicht auf den Islam, sondern auf den arabischen Nationalismus. Den meisten Christen ist es gelungen, sich anzupassen und eine arabische Identität zu übernehmen, obwohl sie in der Regel keine Araber waren. Sie arrangierten sich mit dem syrisch-arabischen Nationalismus, um ihre christliche Identität zu schützen.

Im Irak geschah Ähnliches unter dem Baath-Regime, das ebenfalls auf dem arabischen Nationalismus fusste. 

 

Die Diaspora-Christen aus der Türkei haben dieses Jahr den Druck auf die Türkei verstärkt, den Genozid von 1915 anzuerkennen. Auch CSI fordert die Türkei dazu auf. Was würde die Anerkennung verändern?

Über Nacht wohl nicht viel. Aber wenn die Türkei weiterhin den Genozid leugnet, obwohl sie durch diesen überhaupt erst entstand, kann sie nie eine stabile Demokratie werden, in der alle Bürger die gleichen Rechte haben und sich als Teil der Gesellschaft fühlen. Präsident Erdogan behauptet, dass es für Muslime unmöglich sei, einen Genozid zu begehen. Diese Leugnung führt dazu, dass die Christen bis heute nicht als gleichwertige Bürger anerkannt werden. Zudem werden die christlichen Opfer oft als Verschwörer dargestellt, die selber schuld sind, dass sie getötet wurden. So schürt die Regierung den Hass gegen Christen als Landesverräter. 

Es liegt im Interesse der Türkei, den Genozid anzuerkennen, wenn sie europäisch werden will. Deutschland hat den Genozid (Holocaust) anerkannt und konnte das Thema zusammen mit Israel und den jüdischen Überlebenden angehen. Das sollte der Türkei als Beispiel dienen. 

 

Zur Rolle der Grossmächte: Sie haben 1915 den Genozid nicht verhindert.

Die Verhinderung des Genozids hatte für keine der Grossmächte eine hohe Priorität. Von allen Grossmächten hatten Deutschland und Österreich-Ungarn den grössten Einfluss auf die Türkei. Sie wollten sich jedoch nicht in die inneren Angelegenheiten des türkischen Verbündeten einmischen. Wäre die Türkei früher besiegt worden, hätte der Genozid gestoppt werden können. Am Ende des 1. Weltkriegs hatte der Genozid aber bereits seinen Lauf genommen. Es war zu spät für die Siegermächte – Grossbritannien, Frankreich und die USA –, um jetzt noch mit Truppen einzuschreiten und den Prozess zu stoppen. 

 

Wie sieht die Situation heute aus? Könnte der Westen die religiöse Säuberung stoppen? 

Was jetzt in Syrien und im Irak passiert, geht im Gegensatz zu 1915 nicht von der Regierung aus. Weder die syrische noch die irakische Regierung hat die Zerstörung der christlichen Gemeinschaften geplant. Das ist ein wichtiger Unterschied. Heute setzen Terrorgruppen die Christen und andere religiöse Minderheiten unter Druck, das Land zu verlassen. Es herrschen Chaos und Krieg, aber es ist nicht in erster Linie ein Krieg zwischen Staaten. Heute wäre es viel einfacher für den Westen, die religiöse Säuberung zu stoppen, als noch im Ersten und im Zweiten Weltkrieg: Der Westen hat Einfluss auf die Mächte, die hinter der religiösen Säuberung im Nahen Osten stehen. 

 

Wie könnte der Westen die religiöse Säuberung stoppen?

Der Westen – in erster Linie Washington, London, Berlin und Paris – sollte jegliche Unterstützung für politische Gruppen und Staaten aufgeben, die Hass, Fanatismus und Diskriminierung von Nichtmuslimen predigen und die Dschihad-Ideologie verbreiten. Der Westen sollte mit Russland und China koopieren und mit ihnen gemeinsam starken Druck auf die Paten der Dschihad-Gruppen ausüben – etwa Saudi-Arabien, Katar und die Türkei. So könnte verhindert werden, dass die Dschihadisten weiterhin an Waffen und Geld kommen.

Der Westen hat die Mittel und die Macht, zu intervenieren und in der Region wieder Ordnung herzustellen. Wenn Ordnung herrscht, würde die religiöse Säuberung vielleicht nicht ganz gestoppt, aber doch sicher aufgehalten. Zwar zeigen sich die USA inzwischen mehr und mehr bereit, im Nahen Osten militärisch – entweder selber oder durch Stellvertreter – einzuschreiten. Die USA sind jedoch nicht bereit, in der Region eine politische Ordnung zu errichten und aufrechtzuerhalten, in der die elementare Sicherheit für die Bevölkerung garantiert ist. Washington engagiert sich im Nahen Osten, um seine unverzichtbaren strategischen und ökonomischen Interessen zu schützen, nicht um religiöse Minderheiten vor religiöser Säuberung zu schützen – auch wenn die Interventionen häufig von schönen Worten über Demokratie und Menschenrechte begleitet sind.

 

Gerade der Islamische Staat (IS) sollte dem Westen doch die Gefahr des radikalen Islams vor Augen geführt haben?

Der Westen ist sich der Gefahr des radikalen Islams seit langem bewusst. Er kennt die politische Kraft und das Potenzial des radikalen Islams – so gut, dass er ihn für die eigenen strategischen Ziele einsetzt: in Afghanistan oder jetzt im Krieg in Syrien, um Assad zu stürzen. Die westlichen Mächte sehen das Hauptproblem mit dem IS darin, dass er ausser Kontrolle geraten ist und eine Eigendynamik entwickelt hat. Der Westen versucht nun, den IS einzugrenzen und vielleicht einen Machtwechsel innerhalb des IS herbeizuführen, damit keine westlichen Interessen bedroht sind.

 

Kann das irakische Kurdistan längerfristig ein Zufluchtsort für die religiösen Minderheiten sein?

Christen und Jesiden werden in Kurdistan derzeit nicht behelligt. Aber Kurdistan ist nicht der Ort, an dem alle religiösen Minderheiten in Frieden, Glück und Erfolg leben können. Kurdistan bedeutet „Land der Kurden“, nicht „Land der Assyrer“ oder „Land der Jesiden“.

 

Wird eine Rückkehr möglich?

Es kann sein, dass der IS zurückgedrängt wird und die religiösen Minderheiten in ihre – zerstörten – Häuser zurückgehen können, die vom IS besetzt waren – vielleicht heute, nächste Woche oder nächstes Jahr. Aber um in der Region zu bleiben, brauchen sie eine Zukunft. Viele sehen keine.

Bedenklich ist auch, dass die USA eine – wie sie sie nennen – „moderate muslimische Armee“ ausbilden, weil sie selber keine Soldaten schicken wollen. Eigentlich werden damit „moderate Dschihadisten“ ausgebildet. Denn im politischen Vokabular der USA bedeutet „moderat“ nicht religiös tolerant. „Moderat“ bedeutet stattdessen, dass sie nicht gegen westliche Interessen handeln sollen. Aber sie werden den Islam vorantreiben und die islamischen Gesetze einführen. Das Ziel dieser Kräfte sind Staaten, in denen Christen und religiöse Minderheiten nicht willkommen sind. 

 

Was kann die Schweiz tun?

Die Schweiz ist nicht in der Lage, viel Druck auf den IS oder auf islamistische Staaten auszuüben, die feindlich gegenüber Christen oder anderen Minderheiten sind. Aber die Schweizer Regierung ist gerade wegen ihrer Neutralität in einer guten Position, um darauf aufmerksam zu machen, dass der religiöse Pluralismus verteidigt und die Religionsfreiheit geschützt werden muss. Sie hat die Möglichkeit, darauf zu drängen, dass die internationalen Mechanismen zur Verhinderung eines Genozids in Gang gesetzt werden. Für diese Anliegen sollte sich die Schweiz an vorderster Front einsetzen.

Die Schweizer Zivilgesellschaft kann protestieren und dieses Thema stark in die Öffentlichkeit bringen. So kann sie der Funke für eine länderübergreifende zivilgesellschaftliche Bewegung werden, die die westlichen Regierungen auffordert, im Interesse der religiösen Minderheiten in der Region zu handeln. Die Schweizer Zivilgesellschaft kann dazu beitragen, dass es für westliche Mächte nicht mehr salonfähig ist, eng mit radikalen islamistischen Mächten zusammenzuarbeiten, die Christen verfolgen – wie etwa Saudi-Arabien, ein Staat, der das Christentum und jede andere Religion ausser dem Islam verbietet. Auch dort werden Leute geköpft. Zwischen dem Verhalten Saudi-Arabiens und dem Verhalten des IS gibt es viele erschreckende Parallelen. Beide vertreten eine sehr ähnliche Interpretation der Scharia. Solange der Westen mit einem solchen Staat verbündet ist – noch dazu auf eine Weise, die Saudi-Arabien zu einem wichtigen Pfeiler der westlichen Politik im Nahen Osten macht –, sendet das eine sehr gefährliche Botschaft: Es ist kein Problem, wenn der Verbündete Nichtmuslime verfolgt. 

 

Was kann CSI tun?

CSI hat verschiedene Aufgaben. Zum einen helfen wir den Opfern der religiösen Säuberungen im Irak und in Syrien direkt vor Ort. Zum andern ist es unsere Aufgabe, bekanntzumachen, was passiert. Es geht nicht darum, blosse Fakten zu verbreiten, sondern Verständnis dafür zu schaffen, wie ein Genozid entsteht. Die Anteilnahme in der Öffentlichkeit muss wachsen und so gross werden, dass man zu handeln bereit ist. Die Haltung, dass in der islamischen Welt kein Platz für religiöse Minderheiten sei, darf nicht länger hingenommen werden.

Adrian Hartmann 


Das ist ein Genozid / Völkermord

Unter dem Eindruck des Genozids von 1915 und des Holocaust, des Völkermords an den europäischen Juden, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen 1948 die «Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes». Die Konvention sieht Massnahmen vor, um künftige Völkermorde effektiv verhindern und bestrafen zu können. Artikel 2 definiert Völkermord/Genozid als «eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:

  • a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
  • b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
  • c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
  • d) Verhängung von Massnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
  • e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.»

Über den Akt des Völkermords hinaus sind auch der Versuch, die Verschwörung, Anstiftung und Mittäterschaft strafbar (siehe Artikel 3). Präventionsmassnahmen und Bestrafungen werden gemäss Artikel 8 von den betreffenden UNO-Organen, insbesondere vom Sicherheitsrat, eingeleitet.