Wegen ihres hohen Alters konnten Laila und Nadir nicht rechtzeitig fliehen, als der Islamische Staat Karakosch einnahm. Zusammen mit anderen Zurückgebliebenen wurden die beiden aus der christlichen Stadt gefahren und inmitten der Wüste ausgesetzt.
Seit vielen Jahren lebten Laila* und Nadir* in der nordirakischen Stadt Karakosch. Mit acht Töchtern und einem Sohn waren sie eine stattliche irakische Großfamilie. Doch mit dem 7. August 2014 kam großes Leid über sie. An diesem schwarzen Tag flüchteten die Kinder aus Karakosch, nachdem sich die kurdischen Peschmerga als Beschützer zurückgezogen hatten und die Stadt von der Terrormiliz IS überrannt wurde.
Zwei Wochen unerkannt in Karakosch geblieben
Laila und Nadir blieben alleine in ihrem Haus zurück. Wegen ihres Alters und Nadirs Herzschwäche sahen sie sich nicht in der Lage, aus Karakosch zu fliehen. Sie waren voller Angst und wagten sich nicht nach draußen. «Immer wieder hörten wir furchterregende Geräusche, weil die IS-Schergen die verlassenen Läden in der Nachbarschaft plünderten», berichtet Laila.
Zwei Wochen gelang es dem Ehepaar, unentdeckt zu bleiben. Was sie schließlich verriet, war das fließende Wasser, das aus ihrem Haus sickerte, nachdem die Wasserversorgung 14 Tage lang zusammengebrochen war. So bemerkten die IS-Kämpfer, dass das Gebäude noch bewohnt sein musste.
So drangen sie ins Haus ein und fragten, warum sie die Stadt nicht verlassen hätten. «Ich entgegnete, dass wir dafür zu alt seien», erinnert sich Laila an die erste Begegnung mit IS-Kämpfern. Diese zeigten sich im ersten Moment gar hilfsbereit und versorgten das Ehepaar mit Reis und weiteren Lebensmitteln.
Deportation ins Niemandsland
Doch nach drei Tagen änderte sich die Situation. Dem Ehepaar wurde mitgeteilt, dass man es nach Mossul bringen werde, um sie zu Bürgern des Islamischen Staats zu machen. Dagegen wehrten sich Laila und Nadir vehement: «Wir machten ihnen klar, dass wir unter allen Umständen Christen bleiben werden.» Darauf wurden die IS-Kämpfer zornig, brachten das Paar gewaltsam an einen Checkpoint neben einer Moschee. «Dort durchsuchten sie uns und nahmen uns alle Wertsachen weg.»
Zusammen mit etwa 30 anderen Christen, die Karakosch nicht rechtzeitig verlassen konnten, wurden Laila und Nadir in einen Bus gesteckt und aus der Stadt gefahren. Während der Fahrt ins Ungewisse standen sie Todesängste aus. Irgendwann fragte der Fahrer einen anderen IS-Kämpfer, warum man denn nicht einfach alle Insassen erschießen würde. «Dann erschießt uns doch!» rief Laila, die in jenem Moment nichts mehr zu verlieren zu haben glaubte.
Mitten im Niemandsland mussten die deportierten Christen aussteigen und zu Fuß weitergehen. «Sieben Stunden marschierten wir in der sengenden Sommerhitze», klagt Laila die unmenschliche Gleichgültigkeit des IS an.
Schließlich kamen Laila und Nadir an einem Fluß an, der die Grenze zu Kurdistan bildete. Die kurdischen Wachmänner am Checkpoint versorgten die geschwächten Menschen mit Lebensmitteln und leisteten medizinische Nothilfe. Laila, Nadir und die anderen ausgestossenen Christen waren erst einmal in Sicherheit.
Tochter hat Bedenken
In der kurdischen Hauptstadt Erbil trafen CSI-Projektleiter John Eibner und Adrian Hartmann auch eine Tochter von Laila und Nadir sowie ihren Enkel Jamal (siehe Kasten). Beide konnten rechtzeitig vor dem IS-Einmarsch aus Karakosch fliehen. Doch die Tochter fühlt sich von den muslimischen Nachbarn verraten und hat jegliches Vertrauen in die Muslime verloren.
Nadir, der an einer Herzschwäche leidet und während des Gesprächs überwiegend auf einem Bett lag, richtet sich plötzlich auf. Er klagt, dass er die hohen Mietpreise für ihre kleine Wohnung in Kurdistan kaum bezahlen könne. Zwar sind alle vier dankbar, in einem relativ sicheren Gebiet zu sein. Doch für die christlichen Flüchtlinge sind die Lebensbedingungen in Kurdistan hart. So erzählt die Tochter, dass sie für neue Identitätskarten extra nach Iraks Hauptstadt Bagdad reisen musste. Ihr blieb nichts anderes übrig, denn nur mit einer Identitätskarte erhalten sie Rationskarten für verbilligte Lebensmittel.
Zusammen mit der einheimischen Hilfsorganisation Hammurabi unterstützt CSI im Irak vom IS vertriebene Christen wie Laila, Nadir und deren Kinder. Sie erhalten Lebensmittel- und Hilfspakete.
Reto Baliarda
Universität in Mossul: Christen wurden schikaniert
Jamal*, der Enkelsohn von Laila und Nadir, hatte bis zur IS-Eroberung im Juni 2014 an der Universität von Mossul studiert. Mit seinen muslimischen Mitstudenten hatte er unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Einige seien nett gewesen. Andere hätten die Christen gemieden oder versucht, sie zum Islam zu bekehren. Auch der Uni-Betrieb selbst wurde nach islamischen Regeln geführt. Während des Ramadans mussten die Christen ebenso fasten und durften keine Musik hören. Prüfungen wurden oft extra auf die christlichen Feiertage angesetzt.
Christliche Studentinnen mussten sich besonders in Acht nehmen. Nicht selten wurden sie bedroht, nicht nur durch die muslimischen Mitstudenten, sondern auch vom Personal. Auch wurden einige gezwungen, einen Hidschab (Kopftuch) zu tragen.
Jamal fiel es schwer, sein Studium in der heutigen IS-Hochburg Mossul abzubrechen. «Mossul hatte die beste Universität im Irak. «Die Absolventen waren berechtigt, an der Sorbonne-Universität in Paris zu studieren», bekräftigt er den Stellenwert seiner Uni. Demgegenüber werde ein akademischer Abschluss in Kurdistan international kaum beachtet. Jamal hatte in Mossul viele Freunde, die er vermisst. «Sie sind alle sehr weltoffen.» Seit der IS-Eroberung ist es schwierig geworden, mit ihnen zu kommunizieren.
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